Pressestimmen





Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 6. Juni 2000

Irritationen in der Hightechwelt

Trotz mancher Probleme gelingt der vorgezogene Auftakt zum internationalen Theaterfestival "transeuropa" bei der Expo

Hannover/Hildesheim. Wer die deutsche Kultur sucht, muss zum Nebeneingang. Einmal um die Ecke, dritte Tür rechts: Da ist er, der Kunst- und Kulturbereich im Deutschen Pavillon auf der Expo. Liebe Güte, ist hier was los. Unzählige Kinder wuseln durch das Foyer, weil sie gleich bei einer Parade ihren Auftritt haben und nicht schon vorher vom Regen durchnässt werden wollen. Dazwischen: Gestresst dreinschauende Erwachsene, die sich per Brustemblem als Mitarbeiter von "transeuropa 2000" zu erkennen geben. Eigentlich soll in 20 Minuten - um 11 Uhr - ihr Programm starten. "transeuropa"-Leiter Olaf Kröck hetzt vorbei: "Das wird frühstens um Zwölf was."

Gestern wurde die Niedersachsen-Woche im Deutschen Pavillon gestartet, am fünften Tag der Weltausstellung hat sich schon alles prima eingependelt: Auf der Expo kommen die Dinge(fast) immer anders als geplant.
Was ist los? Die Vorgängerveranstaltung mit Ministerpräsident Gabriel im Großen Saal überzieht; wegen der Kinderscharen können die Gruppen "Black Market" und "System HM2T" ihre geplante Performance nicht vorbereiten; die Schauspieler vom "Secret Hippie Piece" bekommen nicht die nötige technische Ausstattung, dürfen ihre eigene "aus Sicherheitsgründen" aber nicht mitbringen; die mehr als 100 Mitwirkenden von "Babylon" sind mit ihren Bussen an den falschen Eingang geleitet worden - alle drei Produktionen des Hildesheimer Theaterfestivals haben Probleme. Und doch - vielleicht ist auch das typisch für die Expo-: abgesehen von der Verspätung klappt alles noch.

Die Performancekünstler sind als erste so weit. Die beiden Hildesheimer Helge Meyer und Marko Teubner von "HM2T" und die international besetzte Truppe "Black Market" um Boris Nieslony breiten im Foyer ihre Requisiten aus: Belaubte Äste, Blut-tropfendes rohes Fleisch, 30 000 Pfennigstücke, tote Fische und allerlei seltsamer Kleinkram. Die kahl geschorenen Performer aus Mexiko, Schottland, Singapur, Finnland und Deutschland legen los: Zwei haben sich an Säulen fest gebunden und rackern stundenlang gegen die Taue an, einer lässt Fußstapfen aus Papier zu Boden fallen, jemand mit Strickmaske bläst Luftballons auf, bis sie knallend zerplatzen, ein anderer malträtiert seinen Mund mit einem Messer.
Das Publikum reagiert irritert, konsterniert: "Was sind das für Irre?". fragt eine ältere Frau ihren Begleiter. "Das soll eine Show sein", stellt ein Jugendlicher fest, weiß aber nicht, was er davon halten soll. Anderen geht es ähnlich, und Fragen bringen nichts: "He, was machst Du denn da?" Der Mann am Seil schuftet schweigend weiter.
Gleich welche Gefühle überwiegen - Abscheu oder Faszination -, man kann sich der provokanten Performance nicht entziehen: gerade im Expo-Umfeld von tausend Video-Darbietungen, von einer ultra-cleanen Hightechpräsentation neben der anderen.

Wenige Meter weiter im Atrium spielen inzwischen auch die Theater "Drei Wolken" (Gießen), "Third Angel" (Sheffield) mit Kollegen aus Frankfurt und Hildesheim: "The Secret Hippie Piece" entführt in die goldenen Endsechziger. Vier rote Sofas, ein Kühlschrank, ein E-Piano, Obstschale, vor allem eine heiße Pfanne mit Popcorn. Während der Mais in hohem Bogen auf die Betonplatten poppt, zelebrieren sechs sprachlos-coole Typen das gepflegte Abhängen. Ein Plattenspieler dudelt "California Dreaming" dazu. Eine Oase der Ruhe in der actiongeladenen Weltausstellung. Für viele aber zu ruhig, um länger zu bleiben: "Komm lass uns weiter, das ist verlorene Zeit."

Unterdessen tobt im Saal das gesteuerte Chaos. Die Chöre und Schauspieler von "Babylon", der großen Theaterproduktion des Studiengangs Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim, versuchen sich in der kurzen Vorbereitungszeit mit der Bühne vertraut zu machen. Neue Probleme: Einige Schauspieler lassen Feuerzeuge aufblitzen - dürfen sie nicht, entscheidet der Sicherheitsdienst. Die Feuerzeuge hätten angemeldet werden müssen. "Na gut, dann besorgt uns 13 Taschenlampen", kontert Gruppenleiter Frank Matzke. Eine Viertelstunde dauert das Heckmeck, dann dürfen die Feuerzeuge unangemeldet benutzt werden.
Weit mehr als eine Stunde dauern die sieben "Babylon"-Ausschnitte, die die Studenten auf der Expo zeigen, unterbrochen von Choreinsätzen, die das Ganze in publikumsgerechte Häppchen teilen sollen. Doch viele im Saal bleiben trotz der großen Konkurrenz bis zum Schluss, denn die mit Musik gespickte Geschichte vom Turmbau zu Babel zieht sie in den Bann. Eine aus Zürich angereiste Zuschauerin beschließt sogar spontan, morgen zur Hildesheimer Premiere zu kommen. Tortz aller Schwierigkeiten: Der vorgezogene Auftakt von transeuropa 2000 bei der Weltausstellung ist rundum gelungen. Am morgigen Mittwoch wird das eigentliche Festival in der Domäne Marienburg eröffnet.




Süddeutsche Zeitung vom 16. Juni 2000

Die Zuckerverschwörung

Die Solo-Performance "Sweet" von Charlotte Engelkes im Theaterhaus Hildesheim

Eine schöne hochgewachseneLady mit langen Haaren betritt in schwarzem Abendkleid die Bühne und spricht ins Mikrofon: "Ich bin die Frau des Direktors, ich bin nicht gewöhnt, Entscheidungen zu treffen." Dann singt dieses Frau zum Playback einige eigene Aufnahmen und erzählt, wie großartig ihre Show werden wird, denn im Futur ist schließlich alles möglich. Im Film käme nun der direkte Schnitt zum großen Auftritt in Las Vegas, aber wir sind ins Theater gegangen und sehen die Preview von Charlotte Engelkes' 50-minütigem Solostück "Sweet", das im November im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere hat. Also kein Schnitt, die Lady mit den roten Haaren muss weiter proben, und es bleibt vage, wie die fertige Show aussehen soll: Vom wilden Tanz, der eines der Highlights sei, berichtet sie nur, um die Erschöpfung danach zu karikieren.

Die in Stockholm lebende Charlotte Engelkes begann als Bauch- und Folkloretänzerin, sang Opern und avancierte zur Protagonistin in Michael Laubs Ensemble Remote Control. "The director's wife, das bin natürlich auch ich", sagt die Schwedin, die jetzt erstmals alleine und ohne Regisseur auf der Bühne steht - und dabei überzeugt: Engelkes ist eine komplette Künstlerin, ihre schauspielerische Präsenz füllt den Raum. Sie kann singen, tanzen, reden, Akzente imitieren und wahrscheinlich auch mit den Ohren wackeln. So betont sie im Gespräch, wie wichtig ihr intensive Proben und physische Kontrolle seien, um völlig entspannt ins Rampenlicht treten zu können. Dort demonstriert sie dann spielerisch die Körperbeherrschung, dort lässt sie die Spaghettiträger über die Oberarme gleiten, dort zuckt sie rhytmisch mit den Schulterblättern. Ihre Lieblingslieder (Musik: Mats Lindberg) singt sie mit geschulter Stimme, die sie jedoch immer wieder knapp über die Hysterieschwelle dreht. Vor 200 Zuschauern skizziert Engelkes ihr "Sweet" - Szenario (Text: Marina Steinmo): Mitglieder der feinen Gesellschaft sitzen im Fahrstuhl fest und erzählen sich gegenseitig, was sie zu Grunde richtet: "The milk is so sweet, it can ruin his teeth." Zucker degradiert vom Stimmungsaufheller zur Droge: Zucker macht faul und dick, Zucker wird Paranoia: "The sugar-conspiracy!" Lebensbeichten verlieren in Zeiten der Geständnisinflation an Wert, viel mehr interessieren die grellen Anekdoten von explodierenden Pickeln und tragikomischen Geschichten vom Zurüchgewiesenwerden. Jeder sucht die eigene Biografie nach unterhaltsamen Passagen ab: "I was happy a couple of times."

"Sie können ruhig auch schreiben, dass ich nichts richtig kann", sagt Charlotte Engelkes, "wichtig ist, es zu tun!" Amateurgeist? Sie nickt. Very british, wie sie auch ihre Inspirationen hauptsächlich aus der angloamerikanischen Entertainmenttradition bezieht. Da gibt es die typische Stand-up-comedy-Einleitung: "I read in scientific magazine", und Nöl-Arien, die meist in Stimmverlust gipfeln. Wie steht's mit Vorbildern? Sofort ist Begeisterung in ihrem schmalen Gsicht: "I love Ute Lemper!"

Engelkes hat alle Posen im Repertoire, von der Prima Ballerina über den "Saturday Night Fever"-John-Travolta bis zum Gehen-wie-ein-Ägypter und zitiert sie auf lakonische Weise während ihres Tanzes, bei dem sich das Kleid aufbauscht und sie wie eine schwarze Wolke trägt. Auch wenn Engelkes Elemente der populären Kultur integriert, unterscheidet sie die Ernsthaftigkeit des trainierten Körpers von einer Unterhaltungskünstlerin: Hier soll nicht bloß gelacht, sondern eine Leistung bewundert werden. Und die wurde während des Hildesheimer Theaterfestivals transeuropa 2000 hoch bewertet. "Diva" war noch die nüchternste Charakterisierung des Stargastes.